„Organspenden“ in China

Zu gesund, um zu leben?

Von Peter Sturm

FAZ, Germany, 02. April 2007 
China ist an der Weltspitze - unter anderem auch bei „Hinrichtungen“. Über die genaue Zahl der vollstreckten Todesurteile streiten Pekinger Regierung und Menschenrechts-Organisationen. Aber selbst wenn man die höchste kolportierte Zahl annimmt, tut sich in einer Hinsicht eine Differenz auf, die einen den Schauer des Entsetzens den Rücken hinunterjagt.

China hat vor einiger Zeit zugegeben, dass Hingerichteten Organe entnommen wurden. Auf diese Weise, so die offizielle Lesart, könnten die Verbrecher sogar noch etwas für die Allgemeinheit tun. Außerdem sei „nach Möglichkeit“ das Einverständnis des Todeskandidaten eingeholt worden. Wie auch immer man sich das vorstellen mag, auch ein zum Tode Verurteilter hat nur zwei Nieren, eine Leber und so weiter.

Ohne Prozess verhaftet und einfach umgebracht

Auf dem „Markt“ in China sind aber sehr viel mehr Organe. Und die Bereitschaft zur freiwilligen Organspende sei, sagt zum Beispiel der jetzt im Exil lebende ehemalige chinesische Diplomat Zhang Erping, kaum vorhanden. Zwei Kanadier versuchen seit einiger Zeit dem Organhandel in China auf den Grund zu gehen. David Matas, ein Anwalt, und David Kilgour, ehemaliger Staatssekretär im kanadischen Außenministerium, haben einen Bericht zusammengestellt.

Die beiden behaupten darin, Mitglieder der Falun-Gong-Organisation würden gezielt - und ohne jemals einen Gerichtssaal von innen gesehen zu haben - verhaftet und anschließend umgebracht, um ihnen Organe entnehmen zu können. Sie haben, das betonen sie im Gespräch immer wieder, eine lange Indizienkette zusammengestellt. Beweise im strengen Sinn konnten sie selbstverständlich nicht beibringen, denn China erlaubt aus naheliegenden Gründen keine Befragungen im Land. Dass die sehr eifrige Öffentlichkeitsarbeit von Falun Gong die Akzente etwas anders setzt, ist aus Sicht der Organisation wahrscheinlich verständlich. Dass Falun Gong massiven Verfolgungen ausgesetzt ist, ist unstrittig.

Fürstliche Entlohnung für makabre Tätigkeit

Das Unglück fing am 25. April 1999 in Peking an. Tausende Falun-Gong-Anhänger demonstrierten öffentlich. Danach setzte die Repression ein. Tausende wurden verhaftet und misshandelt. Die Kommunistische Partei fühlte sich anscheinend durch eine Organisation, die sie nicht unmittelbar kontrollierte, in ihrem Allmachtsanspruch bedroht, obwohl Falun Gong immer wieder hervorhebt, vollkommen unpolitisch zu sein.

Eine neue Dimension erreichte nach den Recherchen Kilgours und Matas' die Verfolgung dann etwa im Jahre 2001. In ihrem Bericht zitieren sie die Aussage eines chinesischen Arztes. Dieser habe seiner Ehefrau gestanden, in einem Krankenhaus etwa 2000 Gefangenen die Augen-Netzhaut entfernt zu haben. Die Opfer seien getötet worden. Nach zwei Jahren wollte der Arzt nicht mehr, obwohl er für seine makabre Tätigkeit fürstlich entlohnt worden war.

Fördern Meditationsübungen die Gesundheit?

Bei der Lektüre des kanadischen Berichts fragt man sich unwillkürlich, warum gezielt Falun-Gong-Anhänger zur Organentnahme ausgesucht worden sein sollen. Es wäre ja möglich, dass sie lediglich wegen ihrer großen Zahl von den Maßnahmen betroffen worden sind. Zhang Erping hat eine Antwort. Er erinnert sich an die erste Hälfte der neunziger Jahre, als er noch im Dienst der Volksrepublik arbeitete. Damals habe die Regierung Falun Gong als Teil der jahrtausendealten chinesischen Kultur dargestellt. Die Meditationsübungen förderten die Gesundheit. Das spare dem staatlichen Gesundheitssystem viele Millionen.

Der damalige Ministerpräsident Zhu Rongji habe sich sehr erfreut darüber gezeigt und gesagt, das gesparte Geld könne das Land nutzbringend auf anderen Gebieten einsetzen. Falun-Gong-Praktizierende sind also besonders gesund. Deshalb, so die Organisation, seien ihre Organe besonders wertvoll. Und da für Transplantationen gesunde Organe gebraucht würden, werde die von der Führung als „böser Kult“ diffamierte Falun-Gong-Organisation durch Mord zwecks Organentnahme gezielt bekämpft.

Geständnis eines Arztes als große Ausnahme

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch äußern sich zu diesem Punkt zurückhaltend. Zwar hält man in China vieles für möglich. Aber es gebe nun einmal keine belastbaren Beweise, heißt es. Wie sollte es sie auch geben, halten dem die Autoren des kanadischen Untersuchungsberichts entgegen. Das Geständnis des Augenarztes sei die große Ausnahme. Und selbst dieser sei nicht bereit, das jetzt öffentlich zu wiederholen.

Aber die große Zahl der Organe, die potentiellen Spendern angeboten würden, spreche eine ziemlich eindeutige Sprache. Für ihren Bericht haben Kilgour und Matas angebliche Patienten in chinesischen Krankenhäusern anrufen lassen, um sich nach den Möglichkeiten zu erkundigen. Man habe diesen „Patienten“ zugesichert, innerhalb einer Woche die jeweils gewünschten Organe zur Verfügung stellen zu können. Sie bräuchten nur zu kommen. So etwas, so die Kanadier, könne nur garantieren, wer nicht auf freiwillige Spender angewiesen sei.

Kein einziger „Spender“ überlebte den Eingriff

Kilgour erwähnt das Beispiel eines Mannes, der zur Transplantation einer Niere nach Schanghai gereist sei. Man habe ihm acht Organe zur Auswahl angeboten. Erst beim achten Versuch habe das Organ „gepasst“. Auf den Einwand, eine Nierenentnahme müsse für den „Spender“ nicht zwangsläufig tödlich enden, entgegnet Kilgour, ihm und seinem Kollegen sei kein einziger Fall zu Ohren gekommen, dass ein „Spender“ den Operationssaal lebend verlassen habe.

Ungeklärt bleiben muss die Frage, warum es etwa 2001 zur Praxis der Organentnahme gekommen sein könnte. Kilgour und Matas haben eine Theorie. Die Haushaltsmittel für das militärische Gesundheitswesen seien damals deutlich gekürzt worden. Die Sicherheitskräfte hätten darauf sozusagen „marktwirtschaftlich“ reagiert und versucht, mit Organhandel Geld zu verdienen. Und da die Zahl der Hingerichteten nicht ausgereicht habe, sei man auf Falun Gong verfallen. Es gebe ihres Wissens jedenfalls keinen Befehl von höherer Stelle, die Organentnahme betreffend.

China äußerst sich bislang nicht substantiell

Organhandel also ein - freilich besonders makabrer - Aspekt der chronischen Korruption in China? Kilgour und Matas wissen es nicht. Sie hüten sich auch vor voreiligen Schlussfolgerungen, sprechen vielmehr von Plausibilitäten, die nicht sehr erfreulich seien. Die Reaktion der chinesischen Regierung beschränkte sich bisher nach Aussage Kilgours darauf, dass man marginale geographische Fehler in einer im Bericht abgedruckten Landkarte groß herausgestellt habe. Damit wolle man wohl den ganzen Bericht für unglaubwürdig erklären. Substantiell habe sich China bislang nicht geäußert.

Eine Änderung dieser Haltung erwarten die beiden Kanadier auch nicht. Sie betonen ihre völlige Unabhängigkeit (auch von Falun Gong) und hoffen, dass ihre Veröffentlichungen die chinesische Regierung dazu bewegen könnten, die Praxis des Organhandels stillschweigend einzustellen. Mehr sei realistischerweise nicht zu erwarten, sagt Kilgour.